Sonntag, 26. Oktober 2008

Der Tag des Herrn


Deutschland. Irgendwann am Morgen. Die ersten Sonnenstrahlen treten durch das halb geöffnete Fenster. Zu Beginn kaum mehr als ein schwacher Schimmer, gewinnen sie bald an Intensität, bündeln sich, verbinden sich zu einer Phalanx aus Licht, die unbelebte Stille durchbrechend, welche die Welt bis dato ebenso endgültig in ihrem Griff hatte wie einst der große Jimi Hendrix die entsetzten Massen. Bald schon wird das ganze Zimmer von einer Helligkeit geradezu durchflutet sein, angenehm freundlich und warm zugleich. Von draußen ertönt der Gesang von Vögeln, von etwas weiter her das Brummen eines Flugzeugs. Die herrschende Atmosphäre wird schnell so angenehm und einladend, man kann kaum anders, als endlich die Augen zu öffnen. Man blinzelt einmal, blinzelt zweimal. Einer Viertelsekunde Irritation folgt ein wundervoller Moment der Klarheit, fast gegen den eigenen Willen zeichnet sich der Ansatz eines Grinsens im Gesicht ab – es ist soweit.

Ah, Sonntag.

Noch bevor sich die Gelegenheit ergibt, dieser Erkenntnis tiefere Gedankengänge folgen zu lassen, ist der Bademantel angelegt, man findet sich selbst vor der Kaffeemaschine stehend vor. Eine große Tasse wird gezogen, heiß und tiefschwarz. Dann wieder zurück in den von Licht durchfluteten Raum, Tasse abgestellt, Knopf gedrückt, der PC fährt hoch. Es ist Herbst - dass es ruhig ein wenig wärmer sein könnte, ist nicht wichtig. Auch dass das einst so leise Schnurren des Computers inzwischen dem verstörenden Sound einer beschädigten Flugzeugturbine gewichen ist, ist jetzt nebensächlich. All diese Dinge zählen im Moment nicht. Ohne groß darüber nachzudenken, weiß man, dass jetzt nur noch eines getan werden muss, etwas, so einfach und selbstverständlich ist und gleichzeitig so wichtig wie die Flugbahn der Himmelskörper am Firmament: Musik muss her.

Die Finger fliegen über die Tasten, die erste koordinierte und überlegte Tat des Tages. Man muss sich Zeit lassen mit der Auswahl – es ist ein weit verbreiteter Irrtum, man könne mit dem richtigen oder dem falschen Fuß aufstehen. Nein, man steht immer mit dem richtigen oder dem falschen Song auf. Die Entspanntheit und Zufriedenheit, wie man sie nur Sonntagmorgens empfinden kann, kann durch die Wahl des richtigen Interpreten konserviert, ja, noch gesteigert werden, ist jedoch gleichzeitig unfassbar zerbrechlich. Die gesamte Atmosphäre könnte zerstört werden, durchbräche jetzt der Sprechgesang eines Taktloss oder das Gitarrenriff eines Angus Young die Stille. Ersteres wäre schlichtweg nicht angebracht, Letzteres käme noch zu früh. Nein, der erste Song des Tages sollte rocken, ohne aggressiv zu wirken, er sollte aussagekräftig sein, ohne dass er versucht, einem seine Botschaft aufzuzwingen. Gute Beispiele dafür sind etwa Jaded von Aerosmith, Peace Train von Cat Stevens, Solsbury Hill von Peter Gabriel oder auch Tom Petty and the Heartbreakers mit The Dark of the Sun. In jedem Fall auch John Mellencamp. War die Nacht sehr kurz, oder befindet man sich in einer eher melancholischen Gemütslage, sind Hymn von Barclay James Harvest sowie Piano Man von Billy Joel ebenfalls eine gute Wahl. Der erste Song, der heute die morgendliche Stille vertreibt, ist All You Zombies von den Hooters. Das Intro der drei Gitarren beginnt, erst leise und ruhig, dann ansteigend, wie die Brandung des Meeres, die sich an den Klippen bricht.

Monument Valley, Utah. Du stehst auf der Spitze eines Tafelberges, den Blick nach Westen gewandt. Über dir der endlos blaue, endlos weite Himmel. Die glutrote Sonne lässt dich den Blick senken, da bemerkst du es. Zuerst ist es nur ein Schatten am Ende des Highways, dann wird es größer, deutlicher, manifestiert sich als aufziehenden Sturm. Die Musik wird lauter, eindringlicher, die Sturmwolken fegen mit unmenschlicher Geschwindigkeit auf dich zu, und während gerade noch die Zeit bleibt, ungläubig die Augen zu weiten, haben sie dich erreicht. Du wirst frontal getroffen, wirst umfasst, verlierst den Boden unter den Füßen. Es gibt keinen Tafelberg mehr, keinen endlosen Himmel, keinen Highway, nur den Sturm – und dich.

Es reißt dich einfach mit.

Was dann folgt, lässt sich kaum in Worte fassen. Die nächsten sechs Minuten sitzt man regungslos da, verzieht keine Miene. Man fühlt noch die morgendliche Kälte in den Knochen, über der Kaffeetasse zeichnen feine Fäden aus Dampf Muster in die flimmernde Luft. Man spürt die Musik in und um sich herum, mehr noch – die Melodie wird molekularer Bestandteil des eigenen Körpers, die Lyrics das einzige Gedankengut. Man nimmt alle diese Sinneseindrücke auf, wird überwältigt von dem Gedanken, wie unbeschreiblich endgültig diese ganze Situation eigentlich ist. Die letzte Nacht mag kurz gewesen sein, noch ist man müde, fühlt sich seltsam betäubt, als hätte sich ein Teil von einem entschieden, einfach nicht aufzuwachen. Und dennoch, man möchte sich jetzt an keinem anderen Ort der Welt befinden, nichts anderes tun, als ewig so zu verharren. Es könnten Kriege beginnen, Finanzmärkte zerbrechen, die ganze Welt in sich zusammenfallen wie ein Kartenhaus – in diesem Moment wäre es egal. Träte jetzt, feuerrot und unüberwindbar, ein Meteorit durch die Wolkendecke, man würde lediglich versuchen, in der letzten Sekunde die Lautstärke höher zu drehen. Stress, Wut, Zweifel – so etwas mochte es einmal geben, ja, in einem anderen Leben, jetzt sind es bloß noch abstrakte Begriffe, verwaschene Erinnerungen an Vergangenes. In genau diesem Augenblick könnte nichts diese überwältigende Ich-bin-Buddha-Seligkeit stören, die man empfindet, jenes vollkommene Gefühl von Ruhe und Freiheit, das jemand, der gläubiger ist als ich es bin, wohl als den Himmel oder das Nirvana bezeichnen würde. Nichts könnte diesen Zustand übertreffen – er ist zufrieden stellender und besser als Sport, besser als ein Gitarrenriff, besser als Sex.



…ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich diese Ausführung beenden soll. Ob mit einem Zitat, einer rhetorischen Frage, einer Empfehlung… und habe doch eigentlich keine Ahnung. Es ist immer noch Sonntagmorgen, der Song ist mittlerweile durchgelaufen, die Kaffeetasse wieder voll. Das Feeling ist noch da. Würde ich jetzt etwas Abschließendes schreiben, es würde der momentanen Situation ein Ende setzen wie der Abspann dem Film, und ich habe nicht vor, dem jetzigen Zustand einen derartigen Umbruch herbeizuführen. Ich werde für die nächste Zeit einfach fortfahren wie bisher, eine weitere schwarze Tasse Lebensgefühl trinken, ein paar weitere Songs hören. Vielleicht demnächst etwas von AC/DC..

- Dude -